Flüchtlings- (Bújdosó-) und Gefangenenlieder

(Vorausgeschickt sei, daß der Begriff „bujdosó” mit „Flüchtling” nur unzulänglich übersetzt ist. Bujdosó ist ein Sammelname für Vertriebene, Versprengte, Verfolgte, Freiheitskämpfer und auch vor herrschaftlicher Willkür Geflohene, die alle die Sympathie des Volkes genießen. Ähnlich bedarf einer Erklärung der Begriff „betyár”, was zwar „Räuber” bedeutet, in dem das Volk aber dennoch einen Freiheitshelden sieht und den es mit einem romantischen Nimbus umgibt, ähnlich wie ihn Schillers „Räuber” genießen.)

Die Flüchtlingslieder hängen eng mit den entsprechenden Liedern der Kurutzenzeit (des Freiheitskampfes des 17. und 18. Jh.) zusammen, klingen aber in anderen Fällen an die Räuber- und Soldatenlieder an. Auch unter ihnen finden sich viele, die nicht unbedingt vom Volk gedichtet sind, sich aber mehr oder weniger folklorisiert und über größere oder kleinere Gebiete verbreitet haben. Diese halb lyrischen, halb epischen Gedichte berichten von Flüchtlingen, den „bujdosó”, die die Gesellschaft ausgestoßen hat: Deserteuren, Waisenkindern, enttäuschten Liebenden, deren bittere Gefühle in der Ich-Form gestaltet werden. Wenn von fernem Land die Rede ist, darf man nicht unbedingt an das Ausland denken, meist handelt es sich nur um den bitteren Abschied vom Heimatdorf.

Was ihren Inhalt anbelangt, so besingen viele Lieder die Bitterkeit des Abschieds von der Heimat, von der Geliebten und von der Familie, die Ungewißheit des in der Ferne Lebenden.

Ziehen mußt’ ich in die Ferne,
Ließ dich, Heimat, ach, ungerne,
Blickte oft zurück mit Sehnen,
Und es flössen meine Tränen.
 
Trauriger Abend, trauriger Morgen,
Jeder Tag bringt mir nur Sorgen.
Weinend blick ich zu den Sternen,
Hartes Los muß ich erlernen.

                           Gyula (Komitat Békés)

Dieses Lied ist, wenigstens teilweise, schon seit dem Beginn des 18. Jahrhunderts bekannt. Es wurde in erster Linie in der östlichen Hälfte des Sprachraumes in zahlreichen Varianten gesungen.

Unter den Gründen zur Flucht kommt häufig eine böse Tat vor, die nicht wiedergutgemacht werden kann:

Nebel, Wind und Wetter, mit der Nacht im Bunde:
Tausend Jahre scheint mir, was nur eine Stunde.
Oben zwischen Wolken flieht des Mondes Scheibe,
Unten flieht ein Betyár ohne Heim und Bleibe.
 
Vater, Mutter zogen auf den Sohn in Ehren,
Doch ich, schlimmer Junge, ließ mich nicht belehren,
Mußt ich schließlich flüchten aus dem Heimatlande,
Machte mich zum Führer einer Räuberbande.

                           (Palotzengegend, Nordungarn)

{G-534.} Dieses Lied wurde bereits in den vierziger Jahren des vorigen Jahr-hunderts aufgezeichnet und ist unverkennbar von einem volksliedartigen Gedicht Petõfis beeinflußt. In diesen Liedern begegnet man sehr häufig der Sehnsucht nach der verlorenen Geliebten; der Vogel, der oft angerufen wird, ist vielleicht ein Symbol der Unstetigkeit:

Flieht das liebe Vögelein,
Rastet kurz nur auf dem Rain,
Ist wie ich selbst eine Waise,
Darum geht es auf die Reise.
 
Flieht das liebe Vögelein,
Rastet kurz nur auf dem Rain.
Auch ich fliehe ganz allein,
Ohne dich, du Rose mein.

                           Vojlovica (ehem. Komitat Torontál)

Auch dieses Lied ist im ganzen Land verbreitet, und seine Varianten unterscheiden sich kaum voneinander. In den Flüchtlingsliedern, die man oft bis ins 16. 17. und 18. Jahrhundert zurückverfolgen kann, kommt sehr häufig der Vogel als Postbote vor:

Schwarze Wolke zieht auf, mir den Tag verdüstert,
In der schwarzen Wolke sich ein Rabe plustert.
 
Warte, Rabe, warte! Nimm mit dieses Schreiben,
Soll’s bei Vater, Mutter und der Liebsten bleiben.
 
Fragen sie, wie geht’s mir, sag, ich leide sehr,
Hab ja in der Fremde keine Heimat mehr.
 
Wenn ich meine Liebe wiedersehen könnte,
Ach, mein armes Herz dann seine Ruhe fände.

                           Diósad (ehem. Komitat Szilágy)

Oft blitzt ein Hoffnungsstrahl der Heimkehr auf, dann wieder erblickt der Flüchtling das elterliche Haus im Traum:

Heimat, Heimat, ach, so schön,
Könnt ich dich noch einmal sehn!
 
Sei’s den Rauch der Hütte nur
Wie am Himmel eine Spur.
 
Mutter, Mutter, mach das Licht an,
Daß zur Nacht ich heimfinden kann.
 
Koch die Milch auf süß und fein,
Brocke frisches Brot hinein.
 
Nur wenn Mutter mir gedeckt,
Hat’s mir immer gut geschmeckt.

                           (Szeklerland)

Die Gefangenenlieder, auch Kerkerlieder genannt, sind mit den Flüchtlingsliedern verwandt und können in manchen Fällen bis ins 18. Jahrhundert zurückverfolgt werden. Auch sie sind in der Ich-Form {G-535.} gehalten und besingen die Bitternisse des Kerkerlebens und die Sehnsucht nach der Heimat, der Familie und der Geliebten. Häufig schließen sie sich an die Räuber- und Soldatenlieder an, können aber doch meist als eigene Gruppe betrachtet werden, da der Kerker und der Verlust der Freiheit den ständigen gemeinsamen Rahmen bilden. Es finden sich auch viele epische Züge in den Liedern, besonders, wenn von der Gerichtsverhandlung und vom Alltag der Gefangenschaft die Rede ist. Der Kerker war im vorigen Jahrhundert oft der Ort, an dem Lieder, in erster Linie die Kerkerlieder entstanden und gelernt wurden. Manches dieser Lieder berichtet in drei Strophen mit epischer Glaubwürdigkeit, aber volksliedhaften Wendungen vom Beginn und Ende des Kerkerlebens:

An den Händen, Füßen Eisen:
So mußt ich nach Buda reisen.
Als sie sahn mich hinter Gitter,
Weinten alle Mädchen bitter.
 
Liebe Mädchen, weint nicht bitter,
Bleib nicht ewig hinter Gitter.
Werd befreit dereinst vom Eisen,
Wieder frei nach Hause reisen.
 
Grade hat’s ein Uhr geschlagen,
Kommt der Wärter mir zu sagen,
„Nimm, Betyár, was dein hier ist,
Hast die Strafe abgebüßt”.

                           Alsóegerszeg (Komitat Baranya)

Im allgemeinen verschweigen die Kerkerlieder den Grund der Strafe, manchmal aber wird er auch genannt:

Unglück hat verfolgt mich durch das ganze Leben:
Tag für Tag läßt Kummer mir das Herz erbeben,
Tag für Tag läßt Kummer mir das Herz erbeben,
Denn zu Ende ist mein freies, schönes Leben.
 
Muß hier schmachten, weil ich Kälber hab gestohlen,
Ketten klirren lassen wegen ein Paar Fohlen.
Schlangenaugen, Kröten leuchten in der Ecke,
Zum Zudecken hab ich nur die Kerkerdecke.
 
Blaß bin ich, mein Röslein, mir gehts immer ärger,
Schon neun Jahre sitz ich hier im tiefen Kerker.
Schon das neunte Jahr ich abgesessen habe,
Weitre elf dazu bekam ich als Draufgabe..

                           Sárköz (Komitat Tolna)

Wie eine Zusammenfassung des Kerkerliedguts mutet das folgende Lied an, dessen erste Strophe eine seit dem Mittelalter oft gebrauchte lyrische Formel ist, dessen zweite Strophe einem der ältesten ungarischen Gefangenenlieder entstammt und dessen dritte Strophe eines der beliebtesten Motive der im Komitatshaus gefangenen Räuberburschen darstellt:

{G-536.} Wenn das Donauwasser nichts als Tinte wär,
Jeder Grashalm auf der Wiese Feder wär,
Jeder Stern am Himmel nur mein Schreiber wär,
Was ich leid, aufschreiben könnt er nimmermehr.
 
Weit in Bihar unten fingen sie mich ein,
Seitdem sitz ich in der Zelle ganz allein.
Über mir die Decke ist mein Leichentuch,
Statt der Glocken hör ich Kettengliedgeklirr,
Statt der Lampe leuchten Schlangenaugen mir.
 
Flog ein Pfau hinauf aufs Komitatsgebäude,
Bringt uns armen Burschen die Befreiung heute?
„Bin ein Sträfling, Sträfling! Komm ich je noch frei?
Kann’s nicht mehr ertragen, Gott mein Zeuge sei.”
„Bist im Kerker, davon ist mein Herze wund,
Wenn du frei wirst, Liebster, werd auch ich gesund.”

                           Nagyszalonta (ehem. Komitat Bihar)

Die Gefangenenlieder stammen im allgemeinen aus denselben Gegenden wie die Hirten- und Räuberlieder, die meisten aus dem südlichen Teil der Großen Tiefebene. Hier hatte 1868–1871 der Regierungskommissar Graf Gedeon Ráday ein Sondergericht eingerichtet, um dem Räuberwesen ein Ende zu bereiten. Andererseits begann man in diesem Raum am frühesten und am intensivsten Volkslieder zu sammeln. Zwar kennt man auch Gefangenenlieder aus Siebenbürgen und der Moldau, aus Gegenden, in denen man dieser Art Lieder nur ausnahmsweise begegnet; sie sind dort allerdings in Stimmung und Form altertümlicher.