Die Geschichte der Ballade | INHALT | Balladen aus der Glaubenswelt |
Es gibt eine Gruppe von sehr altertümlichen ungarischen Volksballaden, deren Struktur und Abschluß gleicherweise märchenhaften Charakter tragen. Dazu gehört die in der Fachliteratur unter dem Titel „Der Wundertote“ oder „Ilona Görög“ bekannte Ballade; sie wurde hauptsächlich in Siebenbürgen, aber auch im nordwestlichen ungarischen Sprachraum aufgezeichnet:
Es ist ein in der europäischen Balladenliteratur allgemein verbreitetes Thema, daß der Bursche sich tot stellt und so seine Geliebte herbeilockt. Die Varianten sind aber außerordentlich verschieden. Die ungarischen Varianten lassen eher eine nördliche Verwandtschaft vermuten (zum Beispiel die „Zaubermühle“), enthalten aber auch südliche Motive, denn in der unerreichbaren schönen Ilona Görög (Görög = Grieche) könnte man vielleicht die griechische Helena vermuten. Der Form nach wären die ungarischen Varianten eher der neueren Balladenepoche zuzuordnen. Von der Versnovelle, die ebenfalls Volksmärchenmotive enthalten kann, unterscheidet sie sich in der Art der Themenführung. In der gestrafften Ballade ist mehr von der ursprünglichen Gerechtigkeitsliebe, der heiteren Kraft und dem Schelmischen des Volksmärchens vorhanden.
Zu dieser Gruppe gehört, ohne jedoch den heiteren, siegreichen Ton der Volksmärchen, sondern den der unabwendbaren Tragödie anzuschlagen, die Ballade Kõmûves Kelemenné (Die Frau des Maurermeisters Kelemen [Klemens]). Unter den zahlreichen ungarischen, zum Teil viel ausführlicheren und erschütternden Varianten dieser Gruppe ist auch eine märchenhafte und auf märchenhaften Elementen basierende mit prosaischem Abschluß bekannt. In der hier wiedergegebenen deutschen Nachdichtung der Ballade beruht der tragische Konflikt auf dem Motiv {G-567.} der unmenschlichen Ausbeutung und Habsucht sowie zugleich auf einer Praktik uralten Volksglaubens, dem Bauopfer, das schon aus dem 5. Jahrhundert v. Chr. durch Ausgrabungen in der Stadt Ur belegt ist.
Ohne sich auf billige und erzwungene Erklärungen einzulassen, kann diese Ballade als eines der furchtbarsten Symbole des Loses der Fronbauern, der an die Scholle gebundenen und schlimmster Ausbeutung Ausgesetzten betrachtet werden. Sie handelt von einer furchtbaren Unmenschlichkeit der Klassengesellschaften: Nicht nur der blutige Schweiß des Arbeiters muß für den Bau der Festung vergossen werden, selbst seine Frau oder ihre „Asche“ muß, wenn es anders nicht geht, in den Kalkgemischt werden, damit die Festungsmauer hält. Und das Erschütternde an dieser Ballade und an diesem Volksglauben ist es eben, daß die Betroffenen dies als ein fast selbstverständliches Opfer betrachteten: Weder Vorahnungen noch das besorgte Flehen des Mannes oder die Kraft der Natur können dem entgegenwirken.
Die glaubensmäßige Grundlage der zitierten Ballade besteht in der Überzeugung, daß für die Errichtung größerer oder kleinerer Gebäude Opfer gebracht werden müssen. Ein solches Opfer konnte in den ältesten Zeiten auch ein Menschenopfer sein; später begnügte man sich damit, die Festigkeit des Gebäudes mit menschlichem Blut oder Haar zu sichern. Bis in die neueste Zeit waren Tieropfer üblich (zum Beispiel ein Hahn), wobei das Opfertier unter die Schwelle gelegt oder in die Wand eingemauert werden mußte. Spuren solcher Opfer finden sich auch heutzutage noch oft in abgerissenen Gebäuden. Dieser Volksglaube und die damit zusammenhängende Ballade ist hauptsächlich in Osteuropa und auf dem Balkan bekannt.
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