Balladen aus der Glaubenswelt | INHALT | Flüchtlings- und Gefangenenballaden |
Die nächste und sehr bedeutende Gruppe ungarischer Volksballaden sind die reimchronikartigen Gesänge, deren Themen Novellen und Begebenheiten der Türkenzeit des 15. bis 17. Jahrhunderts bilden. Schon von früheren ungarischen Forschern wurden diese Balladen als schönste Beispiele des alten Balladenstils erkannt. Sie können vermöge ihrer Rhythmik, ihrer Struktur, ihrer Sprache und ihrer Melodien zu der Schicht der Volksdichtung gezählt werden, die älteste Elemente bewahrt hat. Hierher gehören die Balladen Anna Molnár, Kata Kádár, Szilágyi und Hajmási, Schön Julia, Klein Julia, István Fogarasi und ähnliche. Natürlich sind diese Balladen oft durch Hinweise auf die Türkenzeit, auf den Kerker des Sultans und. durch andere Requisiten der Versnovelle bereichert, was auf Kosten der historischen Glaubwürdigkeit geht. Von der Ballade Szilágyi und Hajmási (oder Die zwei Flüchtlinge) wird diese Grenze nicht überschritten, und das macht ihre Stärke aus.
Die Balladen dieses Typs unterscheiden sich in einigen Fällen nur in Nuancen von einer späteren Gruppe, zu der die aus der Struktur der Feudalgesellschaft sich ergebenden Zusammenstöße, Tragödien und heiteren Episoden zusammengefaßt werden können. Der Zusammenhang zeigt sich auch darin, daß die dichterische Formung dieser Balladen in aller ihrer Varianten die Kennzeichen des neueren und des älteren Stils aufweist. Auch die Themen leben in zeitgemäßer Adaptation fort; so kehrt zum Beispiel die Geschichte des Mädchens, das den Tod der türkischen Gefangenschaft vorzieht (in der Ballade István Fogarasi) in neuerer Fassung wieder, wobei es sich jetzt um ein Mädchen handelt, das einem Herrn oder dem Müller des Dorfes verkauft wird. Diese wie Versnovellen vorgetragenen Balladen sind nicht nur durch die Vortragsweise und den Aufbau der Erzählung miteinander verbunden, sondern vor allem durch die Widerspiegelung der Gesellschaft, die teils volksmärchenhaft, teils bereits novellistisch gehandhabt wird. Es ist kein Zufall, daß die Novellen- und Versnovellenliteratur des 14. bis 16. Jahrhunderts in ganz Europa sich dieser Darstellungsweise bedient hat. Die Erscheinungen dieser doppelten Strömung können durch eine Reihe von Balladenbeispielen belegt werden. Die Vorstellungen von der strengen Gliederung und den Gesetzen der Gesellschaft erinnern {G-573.} noch lebhaft an die Volksmärchen, aber die Verwicklung, der Konflikt, ist bereits von Elementen der Wirklichkeit durchsetzt. Diese eigentümliche Zwiespältigkeit, diese Gegensätze in der Darstellungsweise sind es, die den berückenden Zauber dieses Balladenkreises ausmachen.
Die für ihre Untreue büßende Gattin kommt in der europäischen Volksdichtung sehr häufig vor. Varianten können auch in den Gesta Romanorum nachgewiesen werden; Entsprechungen dieser Ballade lassen sich bis zu den spanischen Balladen zurückverfolgen, und Vergleiche können auch mit einzelnen Zeugnissen der osteuropäischen, besonders der russischen Balladendichtung gezogen werden, wobei aber die Verbrennungsstrafe hier selten vorkommt. Die Wurzeln dieser grausam-schönen ungarischen Ballade reichen weit bis ins Mittelalter zurück.
Nicht unerwähnt soll bleiben, daß gerade die zu diesem Kreis gehörigen Balladen bemerkenswerterweise oft Umformungen in Prosa aufweisen. Man kann verschiedene Abstufungen der Umwandlung beobachten, die bis hin zur reinen Prosa reichen, in deren Zeilen aber der Rhythmus des Verses doch noch pulsiert und sozusagen den Herzschlag des Textes fühlen läßt. Dies ist das Geheimnis einer besonderen, ungekünstelten Schönheit und zugleich ein Beispiel dafür, daß der Wandel in der mündlichen Tradition, der zuweilen abwertend „Zersingen“ genannt wird, nicht nur Kümmerformen, sondern auch in neuer Schönheit erstrahlende Gestaltungen hervorbringt. Es hat den Anschein, als würde der episch-novellistische Vortrag die Vorbedingungen für die Entwicklung zur Prosa schaffen, doch sind deren Gesetzmäßigkeiten bislang kaum untersucht worden.
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