Versnovellen und Balladen aus der Türkenzeit | INHALT | Die Tanzballaden |
Eine besondere Gruppe bilden die Flüchtlings- und Gefangenenballaden des 17. und 18. Jahrhunderts. Auch diese Zeitbestimmung darf nicht starr verstanden werden; sie deutet vielmehr die Entstehungszeit und die Ausbildung der Hauptcharakteristika an. Es sind nämlich nicht nur einzelne Abschnitte, sondern ganze zusammenhängende Teile solcher Flüchtlings- und Gefangenenballaden in die Lieder der Periode nach dem Niederwerfen der Freiheitskämpfe eingegangen, während ein anderer Teil in den Betyárenballaden des 19. Jahrhunderts seinen Platz gefunden hat.
Aus diesen klageliedartigen Balladen spricht mit der Authentizität {G-575.} der Dichtkunst das Leid des unter der türkischen Besetzung schmachtenden und obendrein gleich nach zwei Seiten um nationale Freiheit kämpfenden Ungartums. Dies ist nicht mehr die Welt der versnovellenartigen Balladen, die die königlichen und aristokratischen Hofhaltungen beschreiben. Verschwunden sind auch die übermütigen Kossuthlieder und die kecken Soldatenlieder der achtundvierziger Jahre. Die Themen sind jetzt ausgeraubte, niedergebrannte Bauerndörfer, verlassene Herrenhäuser, verlorene Schlachten, um das Lösegeld von der habsüchtigen und gleichgültigen Familie bettelnde Gefangene, die vergebens wartende Braut, der sich in weglosen Schneewäldern verbergende Soldat. Unter diesen Liedern finden sich individuelle Dichtungen, Klagelieder von Studenten, herumstrolchenden Soldaten, auf ältere Balladen abgestimmte epische Gesänge und doch ist ihre Echtheit unbestreitbar und zeigt klar, wie stark sich dichterische Nachempfindungen von den Neuschöpfungen des Volkes, von der ständigen Weiterentwicklung und der riesigen Kraft der mündlichen Überlieferung unterscheiden. Diese Gesänge und auch die Lieder, die die Steuerlast beklagen, zeigen das dichterische Bild der Zeit, wie es in der Gedankenwelt des Fronbauern erscheint.
Hier sei erwähnt, daß sich in diesen Jahrhunderten eine eigenartige Schicht von türkisch beeinflußten Soldatenliedern, Heiducken- und Flüchtlingsliedern in der rumänischen, bulgarischen, albanischen und südslawischen Volksdichtung entwickelt hat. Eine vergleichende Untersuchung dieses Zweigs , eventuell unter Hinzuziehung eines Teils der ukrainischen Volksdichtung ist eine noch zu begleichende Schuld der osteuropäischen Folkloristik.
Während beim Vortrag der Balladen der ersten Gruppe, selbst wenn in ihnen dramatische Zwiegespräche vorkommen, das Epische überwiegt, schlägt bei der letzteren mehr das lyrische Element durch.
Die nächste Gruppe von Flüchtlings- und Gefangenenballaden ist besonders durch dramatischen Aufbau und Vortrag gekennzeichnet, was dadurch erreicht wird, daß der Inhalt in eine oder mehrere kraftvolle dramatische Szenen zusammengedrängt ist und, sofern es sich um {G-576.} mehrere Szenen handelt, jede trotz des geringen Umfangs sozusagen ein abgeschlossenes dramatisches Ganzes bildet und mit ungeheurer Spannung und Zusammenstößen von Gefühlen und Leidenschaften geladen ist. Obgleich diese Balladen ebenfalls ins 17. bis 18. Jahrhundert verlegt werden können, gibt es darunter solche wie zum Beispiel die Ballade von László Fehér, die ihrem Stil nach zwar nicht zu den alten Balladen gehört, deren Motive aber durch die vergleichende Literaturforschung mindestens bis ins 16. Jahrhundert zurückgeführt werden können, während gleichzeitig mehr als ein Motiv zu den Betyárenballaden hinführt:
Diese Ballade ist im ganzen ungarischen Sprachraum bekannt, und Varianten von ihr können auch heutzutage noch gesammelt werden. Die archaischen Züge sprechen für einen mittelalterlichen Ursprung, und das Hauptthema ist in Westeuropa so weit verbreitet, daß es wiederholt literarisch verarbeitet wurde. Es genügt in diesem Zusammenhang, Shakespeares „Maß für Maß“ oder Sardou Puccinis „Tosca“ zu erwähnen. Das Thema dürfte italienischen Ursprungs und aus Italien durch lateinische Vermittlung in die französischen und englischen Novellensammlungen gelangt sein. Nach Ungarn kam die Ballade wahrscheinlich aus Italien, vielleicht über Dalmatien (in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts).
{G-579.} Auch diese Gruppe enthält Balladen von ausnehmender Schönheit wie die vom Großen Räuber, von Ilona Budai, der Schönen Anna Bíró, von Boldizsár Bátori, Anna Bethlen, und auch die Ballade Der tödliche Tanz muß dazu gezählt werden.
In diesen von dramatischer Kraft erfüllten episch-dramatischen Gesängen zeigt sich stärker als in den früheren Beispielen das unerbittliche, harte System der Feudalgesellschaft. Im Gegensatz zu früheren Forschern meinen wir feststellen zu können, daß der Umstand, der die dramatischen Konflikte verursacht, gerade die unerbittliche gesellschaftliche und familiäre Ordnung ist, die den persönlichen Willen und das menschliche Gefühl unterdrücken. Der Einzelmensch ist den blinden und gewalttätigen Kräften der Gesellschaft ausgeliefert. Die Affekte bewegen sich stets in einem geschlossenen „Stromkreis“, und es sind Haß, Eifersucht und Habsucht, die zu Gewalttätigkeit und Mord führen. Es handelt sich hier keineswegs um Tragödien christlicher Willensfreiheit, eher um den Beweis dessen, daß es unmöglich ist, aus dem determinierten, geschlossenen Kreis des Systems auszubrechen. Die Kraft der Menschendarstellung in diesen Balladen und der Darstellung der durch Leidenschaften zwangsläufig bestimmten menschlichen Schicksale ist einzig in ihrer Art. Das Thema wird gleich anfangs durch eine explosiv komprimierte Szene eingeführt, und das Wunderbare an diesen Balladen ist gerade, daß einige wenige Szenen und einige wenige Personen ausreichen, um die tragische Spannung großer Dramen hervorzurufen. Der Unterschied zwischen Epos und Ballade offenbart sich unter anderem in dieser Art des Aufbaus und in der dramatischen und gedrängten Formulierung. Dies gilt auch für die Ballade „Barbara Angoli“, die sich in feudalen Kreisen allerdings aus bäuerlicher Sicht abzuspielen scheint.
Zu beachten ist ferner, daß im 16. bis 18. Jahrhundert in den dramatischen Balladen die Bauernschaft mit ihren gesellschaftlichen Problemen bereits auftritt, was in den Märchenballaden und Historiengesängen kaum der Fall ist, wo Bauern allenfalls als Nebenpersonen vorkommen. Anders verhält es sich in den Tanzballaden, in denen mit Ausnahme der Ballade vom Königssohn die Personen nur mehr der bäuerlichen Klasse entstammen.
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