Kleinere Prosagattungen der Volksdichtung


Inhaltsverzeichnis

Zur Prosavolksdichtung gehören außer dem Märchen, der Sage und der Legende noch zahlreiche andere Gattungen. Die Anekdote ist eine scherzhafte, pointierte, kurze Erzählung, deren Handlung meist mit einer bestimmten Person oder einem bestimmten Ort zusammenhängt. Sie enthält zahllose Wanderelemente, ein Beweis für die Anpassungsfähigkeit der Gattung. Sie lebt auch heute noch und verbreitet sich. Der Schwank ist ebenfalls eine scherzhafte Erzählgattung; sein Humor ist in der Regel derb. So nannte man im Mittelalter auch die auf den Märkten und bei anderen volkstümlichen Zusammenkünften aufgeführten lärmend-heiteren Schauspiele. Während sich diese beiden Gattungen in mehr oder weniger festen Formen entwickelten, {G-638.} nahm das Memorat, worin persönliche Erlebnisse (von Soldaten, Arbeitern, Familienmitgliedern usw.) mitgeteilt wurden, in der Regel je nach dem einzelnen Erzähler eine individuelle Form an, die sich bei häufiger Wiederholung abrundete.

Etwas eingehender wollen wir die Redensarten, Sprichwörter und Rätsel behandeln, diese kleinsten, aber doch bedeutenden Schöpfungen der vom Volk geschaffenen Prosa.

Sprichwörter und Redensarten sind gedrängte Formulierungen der dem Volke innewohnenden Weisheit und oft von ironisch-scherzhafter Klugheit, Ausdruck seines an jahrhundertelangen schmerzlichen und siegreichen Kämpfen und Erfahrungen geschliffenen Verstandes. Gerade diese epigrammatischen Formen haben einen starken Einfluß auf die Literatur ausgeübt. Shakespeare, Puschkin, Tolstoi, in Ungarn János Arany, Sándor Petõfi, Mór Jókai und Kálmán Mikszáth bedienten sich oft und gerne dieser ausgestreuten Perlen des Geistes. Die Redensart und das Sprichwort besitzen die Kraft des bündigen, komprimierten Ausdrucks, die Brillanz der Sprache, sie sind aber gleichzeitig viel mehr als das. In ihnen lebt die aus Erlebnissen und Erfahrungen geschöpfte, auf die knappste Form gebrachte Weisheit des Volkes.

Im Sprichwort und in der Redensart tritt noch mehr als in anderen Zweigen der Volksdichtung deren sozialer, kollektiver Charakter in Erscheinung. In ihnen verbirgt sich die individuelle Schöpfungskraft in noch tieferer Anonymität als anderswo -und ist dennoch nicht unauffindbar. Es gibt in der Literatur Gestalten, die ständig Sprichwörter im Munde führen und für die verschiedensten Erscheinungen des Lebens ein solches bereit haben. Auch die Ethnographen sind bei ihrer Sammeltätigkeit oft Leuten begegnet, die unerschöpflich im Gebrauch von Sprichwörtern waren und solche auch erfanden. Trotzdem haben die Redensarten und Sprichwörter kollektiven Charakter, individuelle Züge findet man nur selten.

Zum zweiten ist für die Redensarten und Sprichwörter charakteristisch, daß sie allgemein gebräuchlich sind, was bedeutet, daß die Gemeinschaft (meist eine ganze nationale Gemeinschaft) in einer gegebenen Epoche – denn auch diese Dinge haben ihre Geschichtlichkeit – diese Redensarten und Sprichwörter dauernd in gleichem Sinne gebraucht. Sie sind also Teile eines allgemeinen Sprachschatzes, aber in einer Weise, die mehr bedeutet als bloßes Nachsprechen, es ist vielmehr jedesmal gleichsam ein dichterisches Zitat aus dem Gemeinbesitz.

Daraus folgt das dritte – mit den vorhergehenden zusammenhängende – Kennzeichen der Redensarten und Sprichwörter: Es ist die beständige formale Struktur, die sich vor allem im Bestreben zur Gedrängtheit und Kürze äußert. Betont soll auch werden, daß die Redensarten und Sprichwörter sich ebendarum wesentlich von der normalen sprachlichen Ausdrucksweise unterscheiden.