3. Die Anwendung von Rechenanlagen (EDV)
bei der Erschließung von alten Druckwerken

Vjestnik bibliotekara Hrvatska XXV. (1981) 37–43.

Im ersten Augenblick konnte es für viele Leser ziemlich ungewöhnlich erscheinen, daß man so grundverschiedene Dinge wie moderne Technik und Dokumente der vergangenen Jahrhunderte miteinander in Kontakt bringt. Doch es soll keineswegs eine Verbindung der Gegensätze aus spielerischem Selbstzweck sein. Der Zusammenhang ist ganz real: die Anwendung der EDV vervielfacht die Möglichkeit der Speicherung, des Ordnens und des Aussuchens von Daten. Diese Gesichtspunkte könnten aber nicht nur in der Produktion und Distribution von heute, sondern auch bei der Erschließung der Druckwerke von gestern eine außerordentlich wirksame Hilfe leisten. So ist es richtig, sogar notwendig, diese technische Möglichkeit – die eine völlig neue Perspektive bietet – zu nutzen. Im Folgenden werden natürlich nicht die technischen Daten der EDV, sondern nur deren Anwendung bei der Erschließung von alten Drucken behandelt.

Die englischen Erfahrungen

England spielte auf dem Gebiet der bibliographischen Erschließung von alten Drucken immer eine führende Rolle. Im British Library von London befindet sich die weltweit größte Sammlung von Büchern der vergangenen Jahrhunderte. Nicht nur die Erschließung der Inkunabeln, sondern auch der Druckwerke des 16. Jahrhunderts in Spezialkatalogen ist mustergültig. Man sollte auch noch den vorbildlichen Gesamtkatalog der Drucke des 16. Jahrhunderts, die in den Bibliotheken der Universität von Cambridge aufbewahrt sind, erwähnen. Es darf daher nicht verwundern, daß der erste Plan, die EDV bei der Erschließung alter Druckwerke einzusetzen, in England entstand.

Bei der bibliothekarischen Bearbeitung moderner Bücher mit Hilfe der EDV hatten die USA bis um die Mitte der sechziger Jahre schon eine verhältnismäßig große Erfahrung. Die Engländer wollten diese Ergebnisse für sich selbst nutzbar machen. Man beschäftigte sich mit der Idee, einen einheitlichen Katalog der Bestande der drei wichtigsten Sammlungen[1] mit Hilfe der EDV zusammenzustellen. In diesen Sammlungen sind etwa einhalf Millionen Bände alter Drucke (d. h. vor 1801 gedruckt) aufbewahrt. Eben dieser Reichtum bot den Engländern die große Chance, Computer einzusetzen. Die Abgrenzung von den modernen Büchern war wohl dadurch begründet, daß die maschinelle Bearbeitung der alten Drucke charakteristische Mehransprüche stellt. So entstand das sogenannte LOC-Projekt[2] im Jahre 1968. Im Laufe der sorgfaltigen Vorbereitung hat man ausgedehnte Untersuchungen bei den Werken, die in den Katalogen der oben aufgezählten Sammlungen unter dem Buchstaben „O“ zu finden waren, durchgeführt (diese Gruppe macht bei den alten Drucken etwa 1,7% des Gesamtbestandes aus). Dadurch kam die Tatsache ans Tageslicht, wie groß die Überdekkungen der Bestände in diesen drei Städten sind (so ist z. B. ein Werk aus dem 17. Jahrhundert vorhanden, das in nicht weniger als 23 Exemplaren in den in Frage kommenden Bibliotheken zu finden ist). Dadurch tauchte ein altes und wichtiges Problem der Zentralkataloge auf: wie ließe sich eine Wiederholung der ausführlichen bibliothekarischen Bearbeitung am günstigsten vermeiden? Bei den alten Druckwerken kam eine weitere, aber kaum geringere Sorge hinzu: wie ist es möglich, die einzelnen Ausgaben desselben Werkes voneinander sicher, aber doch in ökonomischer Weise zu unterscheiden? Diese beiden Grundfragen wollten die Organisatoren des LOC-Planes mit Hilfe der EDV beantworten. So entstand der sogenannte „Fingerabdruck”-Methode (englisch: Fingerprints).

Diese im Zeichen der englisch-französischen Zusammenarbeit ausgebildete Lösung ist ganz originell. In einer Instruktion legt man vorher ganz genau fest, von welchen Stellen des alten Druckwerkes Buchstaben bzw. Zeichen mechanisch nacheinander abgeschrieben werden sollen. Es handelt sich immer um vier verschiedene Stellen, von denen 1–6 Buchstaben bzw. Zeichen, die – eben durch diese mechanische „Gruppenwahl” – nicht nur für ein Werk, sondern auch für eine bestimmte Ausgabe charakteristisch sind, gewählt werden.

Die Chance, daß eine fingere Kette von Buchstaben zufälligerweise mit dem „Fingerabdruck” eines anderen Werkes vollkommen identisch sein sollte, ist äußerst gering. Man nennt also diese Kette von Buchstaben bzw. Zeichen (z.B. Bindestrich), die man vorschriftsmäßig mechanisch von den festgesetzten Stellen abschreibt, in der Fachliteratur „fingerprints”. Die Angaben, die von den verschiedenen Instruktionen bei der Titelaufnahme verlangt werden, spiegeln oft die kleinen, feinen Abweichungen zwischen den einzelnen Ausgaben der alten Drucke (vor allem aus der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts) nicht wider, obwohl diese bibliographisch voneinander eindeutig unabhängig sind. Der „Fingerabdruck” ist dagegen zu dieser „Individualisierung” äußerst geeignet.

Es kommt aber auch bei alten Drucken nicht selten vor, daß der Restbestand einer Publikation, die man nicht rechtzeitig verkaufen konnte, durch „Modernisierung” der Jahreszahl wiederum in Umlauf gebracht wurde (die römischen Ziffern eigneten sich besonders zum „Auffrischen” des Datums). Darum haben die englischen und französischen Entwickler der „Fingerprint“-Methode in ihrer Instruktion die Kette durch die Jahreszahl ergänzt.

Es ist keine isolierte Erscheinung in der Praxis der bibliothekarischen, bzw. bibliographische Erschließung von alten Drucken, daß Exemplare derselben Publikation durch die „Fallen” der Instruktionen der Titelbeschreibung in den Katalogen der einzelnen Sammlungen unter verschiedenen Namensformen der Autoren oder unter einem ziemlich willkürlich ausgewählten Schlagwort zu finden sind. Die „Fingerprint“-Methode führt diese zusammen und macht die einheitliche Bearbeitung möglich. Um diese Bemühung zu unterstützen, wird die Bibliothekssignatur und auch – in möglichst kurzer Form – der Name des Verfassers und der Titel dem bereits mit der Jahreszahl ergänzten „Fingerprint” zugefügt. Der weitaus größte Vorteil dieser Methode besteht darin, daß man die Kette von Buchstaben bzw. Zeichen in den Computer ohne weiteres einspeichern kann. Das bedeutet eine sichere und ökonomische Grundlage der erwünschten Identifikation.

Die Weiterentwicklung der Fingerprint Methode die Arbeit von ESTC

Das LOC-Projekt ist bis heute – offenbar aus materiellen Gründen – nicht verwirklichbar, aber die dazu entwickelte Fingerprint-Methode wird unabhängig davon verwendet und ist bereits weit verbreitet. Nun existieren schon einige gedruckte Kataloge und Bibliographien alter Druckwerke – vor allem in England und in Frankreich –, die diese „Fingerprints” aufweisen. Im Laufe der so sozusagen als Abfallprodukt entstandenen, Praxis sind nicht selten ganz überraschende Beobachtungen ans Tageslicht gekommen. Eben durch diese Fingerprint-Methode war es zum Beispiel möglich zu erkennen, ob ein Teil der gedruckten Exemplare mit anderen, eventuell mit fingierten Impressendaten, hergestellt wurde. Bei der Analyse von solchen und ähnlichen Angaben leistet der Computer eine enorm große Hilfe. Die Maschine macht es möglich, die eingegebenen, meistens aus 16 Einheiten bestehenden Ketten des „Fingerprints”, mit einem beliebigen Glied beginnend, zu ordnen. Dadurch kann man zum Beispiel auch erfahren, ob einige Blätter aus einer anderen Ausgabe übernommen wurden.

Das LOC-Projekt wollte vielleicht viel zuviel auf einmal erschließen, wozu eine sehr große materielle Unterstützung notwendig gewesen wäre. Der internationale Verband der Bibliothekarvereine (IFLA) hat in den siebziger Jahren in seinem großen, sogenannten UBC-Programm (Universal Bibliographic Control) allen Ländern vorgeschlagen, ihre bibliographische Bearbeitung der Druckwerke weiter zu entwickeln. Dadurch ist auch die Erschließung der alten Druckwerke in Großbritannien in den Vordergrund getreten. Die Bücherproduktion des 15. bis 17. Jahrhunderts wurde schon früher in zwei Bibliographien (Pollard-Redgrave, bzw. Wing) registriert, aber die Werke des 18. Jahrhunderts waren noch vollkommen unüberschaubar. Im Jahre 1978 hat man in enger Zusammenarbeit der Engländer mit den Amerikanern angefangen, diese enorm große Aufgabe zu meistern. Dieses neue Unternehmen hat, wie es im englischen Sprachgebiet üblich ist, eine Abkürzung bekommen: ESTC – The Eighteenth-Century Short-Title Catalogue. Es handelt sich also um einen kurz gefassten Katalog aller Druckwerke, die im 18. Jahrhundert in Großbritannien, bzw. in ihren Kolonien hergestellt wurden, und aller weiteren Publikationen in englischer Sprache.

Die zwei oben erwähnten Bibliographien der Periode vor 1701 werden mit den für eine Neuausgabe traditionellen Methoden zusammengestellt. Dagegen ist die vollkommen neue bibliographische Bearbeitung der englischen Druckwerke des 18. Jahrhunderts von Anfang an mit Hilfe der EDV geplant. Dieses war auch wegen der Größe des zu bearbeitenden Materials unerlässlich. Man rechnet nämlich mit etwa 350 000 bibliographischen Einheiten, die in etwa einer Million Exemplaren erhalten geblieben sind. Als Basis dieses bibliographischen „Grossunternehmens” dient der enorm reiche Bestand der British Library (früher British Museum). Die ausgezeichnete Organisation und die guten Fachleute machen es möglich, daß die bibliographische Registrierung der großen Menge von Bücher (etwa eine Viertel Million) der „Schatzkammer” von London innerhalb so unwahrscheinlich kurzer Zeit schon im Jahr 1982 mit Hilfe der EDV fertig sein wird. Natürlich befinden sich weitere hunderttausend solcher Bücher noch in anderen Sammlungen, vor allem in Großbritannien und in Nordamerika, die man ebenfalls noch registrieren sollte. Aber schon in den letzten Jahren meldeten sich eine ganze Reihe von Bibliotheken freiwillig, um durch Lieferungen von Angaben den ESTC zu komplettieren. Die Wichtigkeit dieses Unternehmens wurde demnach von vielen Seiten sogleich erkannt. Man plant heute einen zusammenfassenden Zentralkatalog, der gleichzeitig die retrospektive Nationalbibliographie des englischen Sprachgebiets ausmachen wird, um ihn 1986–87 in Mikroform zu publizieren. Das wird das „Endprodukt” des bisher größten bibliographischen Unternehmens der Welt sein.

Das Unternehmen in Tübingen (BRD)

In der Reihe der Länder mit großer Tradition auf dem Gebiete der Buchgeschichtsforschung, die sich auch mit der Bearbeitung alter Drucke mit Hilfe der EDV beschäftigten, fehlten die Deutschen auffallend lange Zeit. Wahrscheinlich fehlten ihnen die nötigen Erfahrungen auf diesem speziellen Gebiet und haben daher mit der Erschließung der alten Druckwerke mit Hilfe des Computers nur auf einem engen Feld begonnen. Im Jahre 1978 startete die Arbeit der „Bibliographie der deutschen und lateinischen Flugschriften des frühen 16. Jahrhunderts (1501–1530)“ in Tübingen. Dieses Unternehmen bezieht sich, wenn man es mit dem ESTC vergleicht, auf ein wesentlich engeres Gebiet, wo man die bibliographischen Einheiten nicht mit Hunderttausenden, sondern „nur” mit Zehntausenden ausdrücken kann. Andrerseits geht aber die äußerst anspruchsvolle Erschließung der Drucke wesentlich tiefer in die Einzelheiten. Durch mehrjährige Vorbereitungen wurde der Begriff der Flugschrift genau identifiziert und die Instruktion der bibliographischen Beschreibung und der Analyse des Textes fertiggestellt. Beide gehören zu den anspruchsvollsten philologischen Leistungen, die gleichzeitig die Computertechnik berücksichtigen, bzw. ausnützen. So wird z.B. der ganze Text des Titelblattes – mit der Bezeichnung des Zeilenschlusses – wortgetreu festgehalten. Im Fall der EDV ist diese Aufgabe wegen der zahlreichen Spezialbuchstaben und Zeichen (Ligaturen, Abbreviaturen usw.), die in den ersten drei Jahrzehnten des 16. Jahrhunderts in den Druckwerken gebraucht wurden, überhaupt nicht so einfach. Man geht auf die bibliographischen Einzelheiten so tief ein, daß z.B. auch die falsche Setzordnung in den einzelnen Exemplaren registriert wird. Was die Erschließung des Textes betrifft, ist sie fast einzigartig. Alle Namen, die in den Flugschriften zu lesen sind, werden in den Computer eingegeben. Auch dem genauen Text der in den Flugschriften zitierten Autoren geht man nach, um ihn zu kontrollieren. Der Text der Flugschriften wird inhaltsmassig mit zahlreichen Schlagwörtern ganz tief ausgeschöpft: angefangen von der religiösen Zugehörigkeit bis zur Modegeschichte (z.B. bei der Beschreibung der Kleider der Damen, die beim kaiserlichen Empfang anwesend waren). So werden nicht selten Hunderte von Angaben bei einem einzigen Druckwerk festgestellt und in die Memorie des Computers eingefüttert, die man dann einzeln, oder in beliebiger Weise verknüpft auf dem Bildschirm abfragen kann. Die Möglichkeit solcher kombinatorischen Untersuchungen öffnet eine ganz neue Perspektive. Dadurch könnte man auch solche tiefgehenden Forschungen durchführen, die sonst bei Tausenden und Zehntausenden von Drucken allein durch Menschenkraft unmöglich sein würden.

Weitere Pläne und Vorstellungen

Natürlich kann man die Hilfe der EDV bei der bibliothekarischen Bearbeitung von alten Drucken nicht allein bei neuen Unternehmen in Anspruch nehmen, sondern auch dort, wo der ganze Bestand bzw. alle Neuerwerbungen in den Computer eingegeben sind. So tauchte das Problem bei den technisch sehr entwickelten Sammlungen schon um die Mitte der siebziger Jahre auf, wie man in den Arbeitsgang der EDV-Bearbeitung von modernen Büchern auch die Drucke der vergangenen Jahrhunderte einschalten könnte. An der Harvard University (Cambridge, Mass. USA.) wurde im Jahre 1976 zu diesem Thema ein Spezialkurs für Bibliothekare abgehalten, nachdem das Problem sowohl auf prinzipieller als auch auf praktischer Ebene schon gelöst worden ist.

Im Jahre 1981 sind Nachrichten aus zwei voneinander weit entfernt liegenden Teilen Europas über zwei weitere Unternehmen eingetroffen, wo man die EDV bei der Erschließung von alten Druckwerken in Anspruch nehmen möchte. Die Arbeit des italienischen Zentralkatalogs in Rom wurde bei dem Stichwort „Biblia” abgebrochen. Den Empfehlungen des erwähnten internationalen UBC-Programmes entsprechend, wollen die Italiener ihre retrospektive Nationalbibliographie ausbauen. Als erstes Ziel wird die Registrierung der Druckwerke des 16. Jahrhunderts angestrebt. Um eine überflüssige parallele Katalogisierung zu vermeiden, beabsichtigen sie, die „Fingerprint“-Methode zu verwenden. Ansonsten richten sie die EDV-Bearbeitung nach dem Muster des ESTC.

In der British Library werden die ersten Schritte zu einem Gesamtkatalog der Wiegendrucke, die in den Bibliotheken Großbritanniens aufbewahrt sind, in die Wege geleitet. Die in Berlin geführte Weltbibliographie aller Inkunabeln, der „Gesamtkatalog der Wiegendrucke” ist bei der Publikation ihres Materials seit 1925 bis heute nur von A bis zum Schlagwort „Flühe” gekommen. Nun möchte man in London die wichtigsten bibliographischen Quellen von Inkunabeln mit Hilfe der EDV exzerpieren, bzw. zusammenfassen, um darauf stützend, den geplanten englischen Gesamtkatalog auszubauen.

Es ist logisch, daß die Möglichkeit der Erschließung von alten Drucken durch Computer in jenen technisch entwickelten Ländern auftauchte, wo viele Bücher aus vergangenen Jahrhunderten aufbewahrt sind: England, Frankreich, USA., BRD, Italien. Theoretisch kann man sich aber auch in anderen Ländern – z. B. in Jugoslawien oder in Ungarn – damit beschäftigen. Dadurch kann man die Einführung dieser Methoden beschleunigen und erleichtern, wenn die Vorbedingungen zur praktischen Verwirklichung schon gegeben sein werden.


[1] London: British Library, Oxford: Bodleiana mit den College-Libraries, Cambridge: University Library mit den Sammlungen der Kollegien

[2] Eine Abkürzung der drei erwähnten Städte: London, Oxford, Cambridge




TARTALOM KEZDÕLAP