Die
Katharinenser
Es
sind erst hundertzwanzig Jahre her, daß der erste deutsche Kolonist
seinen Fuß und sei Bündel auf die Erde Santa Catarinas setzte,
und es scheint so lange her, daß die Erzählung jener Ereignisse
fast wie ein Märchen klingt:
In Frankreich regierte damals Louis Philippe, der Bürgerkönig,
von dem man heutzutage nicht viel anderes weiß, als daß er
ein birnenförmiges, den Karikaturisten willkommenes Gesicht hatte.
Er beschloß - schon um seinen Namen mit jenem bekannteren Napoleons
zusammen nennen zu lassen -, das Knochengerüst des Korsen von St.
Helena nach Frankreich zu bringen, und schickte zu diesem Behufe seinen
Sohn, den Prinzen von Joinville, auf den Ozean, um es zu holen. Aber die
Winde sind unberechenbar, und St. Helena ist klein. - So fuhr der Segler
des Prinzen nach Brasilien, das größer ist. Der Kaiser empfing
ihn mit Freude und Ehren, denn in Brasilien treibt nicht jeden Tag ein
Königssohn an Land. "Kaiser Pedro aber hatte eine liebliche
junge Schwester, und der Prinz verliebte sich in sie und freite sie"
- werden die Leser von Grimms Märchen gelangweilt, aber richtig ergänzen.
"Die Hochzeit wurde mit Prunk und Glanz gefeiert", heißt
es im Märchen - und die Geschichte sagt: Der Kaiser hatte aber zufällig
kein Kleingeld im Haus, und so gab er seiner Schwester als Mitgift 2,5
Quadratmeilen Urwald, dort, wo sich die Pfeffervögel bom dia sagen,
irgendwo an der Küste Santa Catarinas.
Das junge Paar fuhr nach Frankreich, wo sie gerade rechtzeitig - das ist
wieder Geschichte - vor dem jahre 1848 ankamen. Das war ein schlechtes
jahr für Königssöhne, die Freiheit stieg malerisch auf
die Barrikaden, Herr Biedermeier stand mit Zylinder und Schießprügel
auf der Gasse - und bald waren Königssohn und Kaisertochter erstaunte
Emigranten in Hamburg.
Bevor ein Emigrant von dem leben kann, was er kann, muß er davon
leben, was er hat: und sie hatten nichts als die 25 Quadratmeilen. Zum
Glück hatten die Hamburger Bretterhändler weit klarere Vorstellungen
über Brasilien als die Besitzer der Bäume, und man wurde handelseinig.
In kurzer Zeit fuhren die ersten Siedler in die Ferne, in den Märchenwald
des Prinzen und gründeten eine Stadt: Joinville. Ein deutsches Städtchen,
ein friedliches Städtchen (sonst assoziieren Deutsche mit französischen
geographischen Namen nur Schlachtfelder), das heute im besten Begriffe
ist, ein brasilianisches Dorf mit Wolkenkratzern und Fabriken zu werden.
Es sind knapp hundert Jahre, daß Dr. Blumenau
etwas über den Märchenprinzen und die tüchtigen Hamburger
las und mit einer Handvoll deutscher Kolonisten nach Santa
Catarina kam. Es ist knapp fünfzig Jahre her, daß die
Stadt Hamburg selbst hier zu Kolonisationszwecken große Ländereien
kaufte, daß die Stadt Hammonia gegründet wurde, das man die
erste, heute museal anmutende Eisenbahn entlang dem Itajaifluß
baute, und daß die "Kolonisten" - der Bauer heißt
hier Kolonist, ein Stück Land "eine Kolonie" - mit Spaten
und Spitzhacke, Säge und Beil in den Urwald zogen. "Urwaldbote"
hieß ihre erste Zeitung.
Es waren andere Menschen. Sie würden es verdienen. daß ihre
Geschichte geschrieben wird. Die Amerikaner versuchen, den Weg ihrer Pioniere
episch - wenn auch nur filmepisch - darzustellen. Die Leute, die im Wagen
nach dem Westen zogen, gegen Indianer kämpften und die Holzhütten
bauten, wo heute Riesenstädte stehen, sind -Heldenfiguren geworden.
Die Katharinenser Kolonisten warten noch auf ihren Homer, und sie werden
vergeblich warten. Die Menschheit ist dazu verdammt, nur das Geschriebene
zur Kenntnis zu nehmen - und aus diesem Leben wurde nichts zu Papier.
Die erste Generation kämpfte gegen den Wald und ist heute unter dem
Farnkraut verschwunden, wie die fernsten Helden. Das Farnkraut wird dichter
werden und ihre Erinnerung blasser, wenn die Sprache verschwunden ist,
die sie gesprochen haben. Die Enkel opfern den Vorfahren nicht, deren
Sprache sie nicht kennen.
Es gibt gewisse Gesetze des Emigrantendaseins, denen fast unmöglich
zu entrinnen ist. Das erste ist das: man muß von vorne anfangen.
Für den in der Stadt bedeutet das, daß er an einem Tage irgendwo
auf der Straße steht - entweder, weil er zu wenig Geld mitgebracht
oder, weil er für das viele, das er hatte, unmittelbar Erfahrung
eingetauscht hat. Für die Kolonisten bedeutet es - in einem zeitlich
viel längeren Ablauf -, daß sie zuerst Hüttenjahre in
einer unwegsamen Tiefe verbringen, daß eine Generation im Urwald
verblutet - verblutet, weil kein Arzt in der Nähe ist, der eine Blutung
stillen könnte. Die zweite Generation erlangt eine gewisse Sicherheit,
und erst die dritte kehrt vorsichtig in die Stadt zurück - um dort,
mit dem Rückhalt der Kolonie, die Sicherheit, den "bürgerlichen
Wohlstand" (das Ziel aller Revolutionäre, aller Emigranten)
zu erreichen. "Die erste hat den Tod, die zweite die Not, die dritte
das Brot." So wird der Werdegang der drei Menschenalter geschildert.
Unter dieser, der dritten, heute schon der vierten Generation, könnte
es einmal einen geben, der mehr als solche knappen Schlagworte über
eines der friedlichsten Kolonisationsabenteuer der Deutschen gibt.
Ichb zweifle daran, daß auch das wenige, was noch die mündliche
Überlieferung zu erhalten vermag, in die Bücher eingetragen
wird. Auf dem Wege in den Urwald hinein und in die Kleinstadt zurück
ist ein Unglück passiert - eben der zweite Weltkrieg. Der Nationalsozialismus
sah und fand in den Auslandsdeutschen seine bravsten Anhänger. Was
der Richtstrahler aus Goebbels' reichem Wortschatz herübersandte,wurde
geglaubt: ,,Deutschland ist wieder schöner geworden", hieß
es. Was sollte der Kolonist des Itajaitales über Dachau wissen, wenn
es ihm nicht klar war, wo Berlin lag? Er hörte nur eine Stimme ...
die der Heimat, der fernen, lieben Heimat der Väter und der Mütter
... und so marschierte die Kolonistenjugend in der Hemdenuniform, der
amtsführende Quisling - ein Herr mit brasilianischem Namen (um den
Behörden nicht aufzufallen) und mit exakt modelliertem Hitlerschnurrbart
(um sich auch dem Einfachsten zu erkennen zu geben) hielt gewaltige Reden
auf der blumengeschmückten Rednertribüne. "Wenn Deutschland
gesiegt hatte" - es waren gewaltige Pläne für den Fall
vorhanden. Die vor dem Krieg "heim ins Reich" zogen, wollten
als Sieger wiederkommen ... Aber es kam, wie wir wissen, anders. Brasilien
trat auf seiten Amerikas in den Krieg, und wenn es auch gegen Hitler eine
rein symbolische Streitmacht über das Meer schickte, hier war es
einfach, gegen die Deutschen zu kämpfen. Man nahm Geschäfte
und Kolonien weg, jagte die friedlichsten alten Tanten, natürlich
auch die Emigranten, die gerade vor Hitler geflohen waren, aus ihren Wohnungen,
errichtete ein regelrechtes Konzentrationslager für begeisterte Nazis
und Antinazis, verbot das Deutschsprechen und schloß die Kolonialschulen.
Von diesem Schlag wird sich die deutsche Siedlung nie erholen. Man kann
nicht ewig und trotz allen Entfernungen die alten Worte wahren. Die Jugend
hat keine deutschen Schulen mehr, die verbrannten Bücher sind verbrannt
- Konzentrationslager und Bücherverbrennung waren gefährliche
Exportartikel, und es ist eine besondere ironie der Geschichte, daß
Lessing drüben deswegen auf dem Scheiterhaufen lag, weil er Toleranz
gepredigt hatte, und hier, weil's auf deutsch gewesen war.
Diese Zeit der Verbote unterbrach eine Entwicklung. Bauern denken langsam
und vergessen nicht, was sie einmal zur Kenntnis genommen haben. lhre
Achtung vor den Behörden ist angeboren und tief. Manche wissen es
noch heute nicht, daß das Deutsch-Sprechen seit zehn Jahren wieder
erlaubt ist. Sie würden sich auch kaum als "Deutsche" bezeichnen.
Deutschland ist sehr weit. Allerdings ist auch Brasilien weit - und wenn
der Kolonistensohn sich schon zu einem Staat bekennen soll - dann nennt
er sich eben in Gottes Namen einen Katharinenser.
"Katharinenser" - was kann man sich unter einem solchen Namen
vorstellen? Unter einem "Afghanen", unter dem Namen "Eskimo"
stellt man sich etwas vor, ob es nun richtig ist oder nicht. Und der Begriff
- selbst der sehr konkrete Begriff "ein Engländer" - deckt
er auch nur einen Teil des individuellen Engländers, dem wir eines
Tages begegnen können?
Wie alle "Amerikaner" sind Katharinenser Legierungen aus Europäern,
die in der Fremde (das ist natürlich nicht das, was Reisende suchen
und bestaunen) etwas Gemeinsames erhalten haben. Polen, Griechen, Franzosen
sprechen portugiesisch miteinander und fühlen sich als Brasilianer
- und du, weil ihr Portugiesisch Ewe- und Suaheliklänge trägt.
Die Portugiesen haben als Kolonialherren Negersklaven herübergebracht
(die Sklaverei wurde gegen Ende des vorigen Jahrhunderts offiziell abgeschafft),
haben den Negern etwas Portugiesisch beigebracht und dann ihren Kindern
Negerammen gegeben. Die "Schwarze Mutter" hat nicht umsonst
ein Standbild in Sao Paulo: sie hat Brasilien die Aussprache geschenkt.
Der "Deutsche Katharinenser", der Enkel von Hunsrükkern
und Schleswig-Holsteinern, spricht die Negerlaute vollkommen nach. Noch
mehr: die Negerammen wiegten die Kinder, indem sie das Gewicht von einem
Fuß auf den andem verschoben, und machten ein pfeifendes Geräusch
dabei. jede Mutter in Brasilien - auch die flachsblonde - würde glauben,
ihre Pflicht schlecht zu erfüllen, wenn sie ihr Kind einen Augenblick
lang ruhig auf den Armen hielte. Und wenn der Kolonistensproß mit
den Gesten der Bantufrauen eingeschläfert wird, bekommt er als erste
Nahrung nach der Muttermilch das Leibgericht der Botokuden: die Mandiokawurzel,
auf botokudisch und katharinensisch: den Aipi.
Ändern die Völker mit ihren Lieblingsspeisen ihren Charakter?
Wird nach langem Aufenthalt in Rom aus dem Nordländer ein anderer
Mensch, weil er seine Kartoffel mit Teigwaren vertauscht? Ich überlasse
es den Seelenforschern, festzustellen, welche Charaktereigenschaften des
Indios dieser mehligen, durchaus wohlschmeckenden und vielseitig verwendbaren
Wurzel zu verdanken waren und wie sich diese beim weißen Katharinenser
äußern. Der betreffende Privatdozent müßte allerdings
einen der nächsten Dampfer nehmen, denn die letzten zweihundert Indios
sind dabei, die ewigen Jagdgründe aufzusuchen ...
An der Grenze des Siedlungsgebietes, das einmal kurz "die Hansa"
hieß, leben Italiener. Dem Kontakt mit ihnen verdanken manche der
deutschen Katharinenser die Kenntnis der Kunst, Polenta zuzubereiten.
"Polenta" ist das gleiche wie "Venetien". Wer die
Lagunenstadt und die unverkennbare Intonation ihrer Einwohner kennt, kann
auf der Serra von Itanduva staunen: das Portugiesische klingt dort so
venetianisch, als ob ein Stück von Goldoni gespielt würde -
und die Wolken zaubern abends sogar einen Himmel von Tiepolo darüber.
Die wenigsten "Italiener" sprechen ihre Großmuttersprache,
vom Toskanischen ganz zu schweigen. Nur Urwörter wie: bambino, paura,
la pappa und der Ausruf ostia! klingen noch weiter.
Die sehr dunkelgrünen Mandiokapflanzen geben die Farbe der Landschaft.
Die hellgrünen Papageien, die im Fliegen kreischen, geben den charakteristischen
Laut.
Die Sprache ist etwas Lebendiges und paßt sich der Landschaft an.
Man könnte das Gesehene gar nicht mit den alten Worten beschreiben.
"Da grünt der Aipi zwischen Serra und Tiefe, und die periquitos
kreischen" - müßte man eigentlich sagen.
Es ist hier im halben Jahrhundert der raschen Entwicklung eine Sprache
entstanden, die in einem weiteren halben Jahrhundert sterben wird. Wenn
es einen Dichter geben würde, der in ihr träumt, oder einen
Romanschriftsteller, der in ihrr so lügt, daß seine Phantasie
der Wirklichkeit ähnlicher ist als die wahrheitsgetreue Erzählung,
dann würde man sie studieren und später in das Museum der toten
Sprachen stellen. So wird sie fast ganz spurlos vergehen, wie so manche
andere in unserer Zeit, der Zeit des großen Sprachensterbens auf
der Welt, an dem das Deutsche mit dem Verschwinden des Ostpreußischen,
des Sudetendeutschen und des Banatschwäbischen schon seinen Anteil
nimmt.
Auch um das Katharinenserdeutsch wird es schade sein, denn es ist eine
lebendige, lustige, treffende Sprache. Der Kolonist, der kein Mittelschullatein
als Brücke zum Portugiesischen sein eigen nannte, horchte aufmerksam
im fremden Land. Er fand bald Worte, die er kannte: bicho klingt wie Bischof
ohne f und bezeichnet jedes Tier, pasto wie Bast, auch wenn es Weide heißt,
barranca wie Ranke, ist's auch der Abhang, und venda, wie Wende, war das
Geschäft ... die Büchse heißt auf portugiesisch lata,
wie eine Zaunlatte, gastar, Geld ausgeben ist wie gastieren, der Gast
... auf diese Weise entstand eine einzigartige Geheimsprache, die gut
klingt und jene verbindet, die sie schon von der Mutter gelernt haben:
"Ich war in der Wende und habe viel Geld gastiert." - "Wofür
denn?" - "Für Bischopulver (Desinfektionsmittel für
Tiere) und Abakaschi! (Ananas)" -"Gibt's frische Abakaschis?"
- "Nein, bloß in Latten."
Die Portugiesen haben für Sehnsucht und Heimweh das gleiche Wort:
saudade. Das ist verständlich. Sehnsucht und Heimweh sind für
ein seefahrendes Volk wie Ostwind und Westwind - die Sehnsucht treibt
hinaus. das Heimweh zurück; beide Gefühle gebieten es, die Segel
zu hissen und aus dem Mastkorb zu blicken ... So kennt der deutsche Siedler
auch nur ein Wort für die zwei Gefühle: "Heimweh ".
"Das Kind hat Heimweh nach die Mutter", höre ich, wenn
ich frage, warum der Kleine so wehmütig schluchzt. "Komm bald,
ich habe sehr Heimweh nach dich", schreibt das Mädchen an den
jungen Mann beim Militär. Der portugiesische Seefahrer blickte zum
Himmel: "tudo azul, alles blau, ganz blau ... da gibt es schönes
Wetter, gute Fahrt...", und der ferne Kolonist, dem ich ein Beingeschwür
geheilt habe und den ich bat, mich vom weiteren Verlauf zu benachrichtigen,
schickte einen Zettel: "ich schreibe Ihnen diese Reihen, um zu sagen,
mit meinem Bein alles blau."
Wie sollten sich sonst die Deutschen unterhalten, die aus so fern abgelegenen
Gegenden hier zusammenkamen wie aus Oberbayern und dem Kaukasus? Die erste
Einwanderung kam aus der Hansa - die späteren aus aller Herren Ländern.
Der brasilianische Staat schickte schon vor dem ersten Weltkrieg Agenten
zu den Wolgadeutschen, auch nach Sibirien, höre ich, um Einwanderer
anzuwerben. Als nach dem ersten Weltkrieg die Serie der Katastrophen in
Rußland begann, erinnerten sich manche Deutschrussen an ihren Onkel
im Urwald und kamen herüber. Leute, deren Religion das Morden verbot,
wie Mennoniten, Gotteskinder, Zeugen Jehovas, entdeckten, daß sie
irgendwo jenseits des gefährlichen Zivilisationskreises leben mußten,
wenn sie ihren altmodischen ldealen nachleben wollten. So wurde das Bild
immer bunter.
Aus dem Farbengemisch wird eine neue Farbe. Hundert Europäer aus
allen Sackgassen und Gebirgen des alten Kontinents ergaben den typischen
Amerikaner. Hier sind wir noch lange nicht so weit, denn die Dampfwalze
der Technologie hat die Charakterzüge noch nicht eingeebnet.
Mit der gemeinsamen Geheimsprache begann etwas. Für den portugiesischen
Brasilianer - einen hier seltenen Menschen - ist diese Sprache noch alemao.
Für den Neuangekommenen ist sie so fremd, daß sie wie eine
Wand zwischen ihm und dem Kolonisten steht. Der gute Katharinenser staunt:
Was soll das für'n Landsmann sein, der nicht weiß, was eine
Latte Abakashi ist?
Gemeinsame Sprache, gemeinsame Seele ... die Leute haben heute so manches
gemeinsam. Ich kenne nur ihre Körper, ihre Leiden, den gemeinsamen
Geruch, der nicht beschrieben werden kann; der aber sowohl von dem des
brasilianischen Landbewohners - des Caboclo - als auch von dem des europäischen
Bauern verschieden ist; ich kenne die wenigen Worte, mit denen sie ihre
zahlreichen Leiden schidern - aber ich bin nicht berufen, Seelenkunde
zu treiben.
Ich kann die Seelen nicht analysieren, und ich fürchte, die Produkte
der Analyse sagen so wenig über die gesamte Seele aus wie die Eigenschaften
der Wasserstoff-, Sauerstoff- und Kohlenstoffatome über die Eigenschaften
des Brotes, das sie gelegentlich bilden. Ich kann nur die Oberfläche
schildern. wenn ich sage: die Bewohner Donna Irmas gehören der fast
fossilen Spezies "rusticus agricola", des Bauern, an. (In Amerika
wurde daraus der mit Maschinen melkende und pflügende Farmer, in
Rußland der Kolchosangestellte, in der Schweiz der Hotelportier.)
Sie sind mißtrauisch bis zum äußersten, denn sie haben
vom Stadtmenschen, dem Beamten, dem Schweinehändler, dem Tapiokafabrikanten
nie etwas Gutes erhalten. Der Arzt, der Apotheker ist von ihrer Unkenntnis
der Dinge reich geworden. Sie trauen dem portugiesisch Sprechenden nicht,
weil sie ihn schlecht verstehen, dem Italiener schon gar nicht, weil sie
ihn gar nicht verstehen, der holsteinisch-platt Sprechende hält den
Hunsrücker für einen gefährlichen Spielpartner. Sie sind
gleichzeitig vertrauensselig: sie fallen prompt auf den Gauner herein,
der Wochenendgrundstücke am Strand verkauft, die aber bei der Flut
unter Wasser liegen. Sie kaufen von wandernden Händlern das schwarze
Riesenschlangenöl gegen Kopf-, Zahn- und Bauchschmerzen, das gleichzeitig
die Geburtswehen erleichtert und, auf den Kopf gerieben, Schuppen uncl
Schlaflosigkeit vertreibt. Sie sind schüchtern und scheu: Sie wagen
es nicht, zum Apotheker zu gehen, der früher deutscher Flottenarzt
war und seitdem seine Patienten anschnauzt; sie sind sehr leicht beleidigt,
sehr schwer gekränkt. Sie sind gleichzeitig so stolz wie wenige Bewohner
unseres stets engeren Planeten; sie gehören zu den ganz wenigen Menschen,
denen niemand etwas zu befehlen hat, die hart arbeiten, aber dann und
dort, wo sie wollen, die unumschränkte Herren auf eigenem Grund und
Boden sind. Und der stolz zu Pferd über seinen "Bast" (die
Weide) Sprengende ist würdevoll wie ein arte Ritter, der schließlich
auch nicht lesen und schreiben konnte, den Katechismus den Mönchen
überließ. aber der frei war, sicher in einer Freiheit, die
der Bürger nicht mehr kennenlernte.
Gegensätze? Gewiß. Wir sind alle aus Gegensätzen gebaut,
aus Vagus und Sympathicus, Engeln und Teufeln - warum sollte der Katharinenser
Kolonist nicht mißtrauisch und leichtgIäubig sein, ein schüchterner
Gewaltmensch?
Nichts wäre leichter, als auf Kosten der Wahrheit ein einseitiges
Bild zu zeichnen: Der Kolonist: ein komischer Tölpel. Donna Irma:
ein Idyll. Der Katharinenser Bauer: ein miserabler Kerl. Eine von den
ungezählten Facetten der Wirklichkeit ist immer leicht festzuhalten.
Komisch? Ja, wie die Figuren aus alten Jahrgängen der "Fliegenden
Blätter":
Arzt: "Wie heißen Sie?"
Patientin: "Mathilde Schwarz".
Arzt: "Ihr Alter?"
Patientin: "Mein Alter heißt Friedrich, aber der ist gesund."
Oder:
Pfarrer: "Samson schüttelte die Säulen, so daß das
Haus der Philister zusammenstürzte - die Säulen. - Wißt
ihr, was eine Säule ist? Nein? Weiß es wirklich keiner? Du
Heini, du weißt es ... natürlich, dein Großvater ist
ja aus Schwaben herübergekommen: nun Heini, was ist Säule?"
"Eine kleine Sau, Herr Pfarrer."
Oder:
Schaffner in der Autobuslinie: "Fahren Sie bis Blumenau?" Bauer:
"Nein, bloß, bis wo ich aussteig."
Das ist wahr wie die Geschichte von der Frau, die Tabagulose unter dem
Schufflblatt hat, aber es kann auch versetzter Schnuppen sein- von der,
die Krippepillen bestellt, die auch bei verderbigen Magen gut sind - von
dem Mann, der seine Birnbäume ausgehackt hat, weil die Birnen madig
waren, und Maden kommen aus dem Holz ...
[Lenard-index]
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